»Übrigens, was ich Sie schon lange einmal fragen wollte«, sagte Herr Dr. Ochsenbogen zu mir, während ich verstohlen nach allen Seiten blickte, da ich gerade im Begriff war, meine Bürotür abzuschließen und den Nachhauseweg anzutreten. Na gut, es war noch früh am Nachmittag – so gegen zwei.
»Ja?« fragte ich kurz angebunden, denn ich hatte es eilig. Beinahe hätte man sagen können, ich war in Eile – wobei: nein, das wäre ein zu starker Ausdruck. Eilig, ich hatte es eilig, das trifft es hervorragend.
»Also was ich Sie schon lange einmal fragte wollte…«, sagte er.
»Schießen Sie los«, erwiderte ich.
»Nein – Sie zuerst bitte«, sagte er. »Alles andere wäre unhöflich, wo wir uns doch schon so lange nicht mehr gesehen haben.«
»Aber wir waren doch heute Mittag erst zusammen in der Kantine?« gab ich zu bedenken.
»Das schon«, sagte er. »Aber da sind immer so viele Leute. Ich habe Sie, und bitte verzeihen Sie mir dieses Geständnis, gar nicht richtig angeschaut. Und wahrgenommen habe ich Sie, wenn ich es recht betrachte, überhaupt gar nicht. Ich hatte nur Augen für Frau Fischbein, aber das nur unter uns, im Vertrauen sozusagen…«
»Sie wollen also allen Ernstes hier zwischen Tür und Angel mit mir über Vertrauen sprechen? Hier, wo jeder uns hören kann, und jetzt, wo ich eigentlich dringend losmuss. Ich werde zuhause erwartet. Mein Sohn hat gekocht.«
»Was gibt es denn Gutes? Ich könnte ja mitkommen? Sie begleiten, wenn ich so sagen darf?«
»Sie dürfen, Sie dürfen, also Sie dürfen das so sagen. Ansonsten aber – ein andermal vielleicht«, antwortete ich ausweichend. Ich war mir gar nicht sicher, ob mein Sohn schon gekochte hatte. Ob ein Essen auf dem Tisch stehen würde, wenn ich nachhause kam, das stand in den Sternen. Vielleicht hatte mein Sohn ja wirklich gekocht, denn das tat er gelegentlich. Er kochte im Grunde genommen gar nicht so schlecht, nur eben sehr selten.
»Sie möchten also gerne über Vertrauen sprechen?« fragte er nun. Und da ich nicht schnell genug etwas entgegnen konnte, fuhr er sogleich fort: »Und über welche Aspekte des Vertrauens genau? Vertrauen als ein allgemeines soziologisches Phänomen, Vertrauen in Form von Vertrauensproblemen in sozialen Netzwerken, oder über Vertrauen in all seinen phänomenologischen Facetten? Darüber hat ein Großcousin von mir übrigens promoviert, aber das nur am Rande.«
»Ich hatte nicht vor, jetzt und hier mit Ihnen über Vertrauen zu sprechen«, sagte ich. »Ein andermal sehr gern, aber nicht jetzt.«
»Na gut, aber wenn es ein andermal geht, warum geht es dann nicht jetzt?«
Mir wurde die Aktentasche, die ich gekonnt unter meinen linken Arm geklemmt hatte, während ich meine Bürotür abschloss, nun doch langsam ein wenig schwer. Behände und mit Schwung nahm ich sie in meine rechte Hand, und im Nachhinein wurde deutlich: ich tat dies keine Sekunde zu früh, denn sogleich schlief mein linker Arm ein.
»Ich muss darauf bestehen und wiederhole meine Frage: Warum nicht jetzt?«
»Weil mich meine Familie zuhause erwartet, Herr Dr. Ochsenbogen«, sagte ich. »Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte. Ich muss zur U-Bahn.«
»Aber die fährt doch alle zehn Minuten. Und Sie haben noch gar nicht Ihre Frage gestellt.«
»Welche Frage sollte ich Ihnen denn stellen wollen?«
»Sind Sie wirklich so desinteressiert an Ihrem sozialen Umfeld, an Ihren Kollegen, an Ihren Mitdozierenden, ja ganz allgemein an Ihren Mitmenschen, dass Ihnen keine Frage einfällt? Sie könnten fragen, wie es mir geht. Sie könnten fragen, ob wir nicht einmal wieder zusammen in die Kantine gehen wollen…«
»Aber das haben wir doch erst heute Mittag gemacht. Das ist doch schon geklärt.«
»Das ist nicht wahr. Wir haben uns dort verabredet, und genau wie verabredet haben wir uns dort getroffen. An der Schlange zur Essenausgabe, um genau zu sein. Aber wir sind nicht zusammen in die Kantine gegangen. Wenn es Ihnen schon sonst an Präzision fehlt - bitte bleiben Sie wenigstens bei der Wahrheit.«
Ich fragte mich gerade, wie wir an diesen Punkt unserer Unterhaltung geraten waren, als er mich mit beiden Händen an den Schultern packte. Es fehlte nur wenig, und man hätte von einem Schütteln sprechen können, also davon, dass er mich an den Schultern schüttelte. Na gut, eher ein leichtes Schütteln, aber dennoch. Er begann zu schwitzen, was ich daran erkennen konnte, dass sich unter seiner linken Nasenspitze eine feine Schweißperle bildete. Sie fragen sich nun vielleicht, welche Rolle es spielt, ob sich diese Perle unter seiner linken oder unter seiner rechten Nasenspitze bildete, und Sie fragen zurecht. Sie können den Grad der Erregung, die mittlerweile Besitz von mir ergriffen hatte, daran ablesen, wie ich bei der Schilderung meiner Begegnung mit Herrn Dr. Ochsenbogen ins Schlingern gerate. Selbstverständlich besitzt auch Herr Dr. Ochsenbogen nur eine einzige Nasenspitze. Alles andere wäre doch völlig absurd.
»Jetzt stellen Sie doch endlich ihre Frage«, rief er schrill aus, während seine Hände noch immer meine Schultern kniffen. Seine Erregung stand meiner eigenen nun in nichts mehr nach.
»Ich habe tausend Fragen an Sie, aber nicht jetzt, nicht hier, nicht heute. Ein andermal!« schrie ich.
»Ich werde Ihnen ganz sicher keine tausend Fragen beantworten«, sagte er sanft. »Einigen wir uns auf fünfhundert, ist das in Ordnung?«
»Gut, fünfhundert«, sagte ich.
»Zu eins neunzehn das Stück«, sagte er.
»Auf keinen Fall«, sagte ich. »Ich verlange Rabatt. Sagen wir eins neunzehn für alle fünfhundert Fragen. Oder wir machen es folgendermaßen, und ich sage das, weil ich heute einen guten Tag habe. Ich spendiere Ihnen eine Kugel Eis.« Mein großzügiges Angebot war ganz sicher meinem innigen Wunsch zu verdanken, diesem Wahnsinnigen zu entrinnen.
»Darauf lasse ich mich nicht ein«, sagte er. »Wer weiß, ob ich bis dahin noch lebe. Wir sollten zumindest direkt einen Termin festlegen, hier und jetzt, auf der Stelle.«
»So eine Stelle bekommen wir niemals bewilligt. Und ich an Ihrer Stelle wäre nicht so fordernd, nach allem, was heute vorgefallen ist.«
»Wovon sprechen Sie?« fragte er.
»Von unserem Essen in der Kantine und von Frau Fischbein.«
»Wollen Sie mich etwa erpressen?«
»Nichts läge mir ferner. Ich spendiere also ein Eis, stelle meine Fragen…«
»Schriftlich, wenn ich bitten darf. Ich meine natürlich Ihre Fragen.«
»Welche Fragen?« fragte ich.
»Warum um alles in der Welt schriftlich?« fragte er zurück. »Ich sage Ihnen, ich zerre Sie vor den Ombudsmann, wenn Sie nicht einlenken.«
»Ich muss jetzt wirklich los, Herr Dr. Ochsenbogen«, sagte ich.
»Einen Moment noch«, erwiderte er. »Ich habe Sie doch nur angehalten, weil ich Sie schon lange einmal etwas fragen wollte.«
»Und was?« fragte ich. Ich war völlig am Ende mit meinen Nerven.
»Eben ist es mir wieder eingefallen. Ich wollte Sie fragen, ob Sie mir demnächst vielleicht einmal eine Kugel Eis spendieren wollen? Es soll hier um die Ecke eine ganz hervorragende Eisdiele geben. Wie wäre es morgen in acht Monaten? Also sagen wir am 25. August? Das ist ein Donnerstag, das sollte doch eigentlich gut passen? Also dann, morgen in acht Monaten. Bis dann! Bis bald!«