»Was machen Sie da?« fragte der junge Mann in höflichem Ton jene ältere Dame, die seit etwa zehn Minuten schweigend neben ihm saß. Sie hielt mit beiden Händen einen Gegenstand fest umklammert, den man wohl als einen prallgefüllten Sack bezeichnen muss.
Der Sack wirkte ein wenig zerschlissen. Farblich ließen ihn ein dunkles Grün, ein gedecktes Braun und eine Art Stahlblau wenn schon nicht erstrahlen, so doch zumindest unauffällig vor sich hin schimmern. Der Sack schillerte übrigens nicht, nein, keineswegs. Es handelte sich nicht, und darauf soll an dieser Stelle ausdrücklich hingewiesen werden, es handelte sich also nicht um einen Schillersack. Auch prangte hier nichts. Im Grunde genommen und wenn ich es recht bedenke, war der Sack einfach nur da.
Der junge Mann und die ältere Dame befanden sich im Wartebereich eines japanischen Nudelsuppen-Schnellimbisses, etwa zwanzig Gehminuten nördlich des Hauptbahnhofs gelegen. Obwohl es erst Anfang Mai war, herrschte eine drückende Hitze, auf der Straße wie auch im Innern des Imbisslokals. Daher verwunderte es, dass die Dame ihr Kopftuch nicht ablegte. Stattdessen zog sie es ein wenig fester um ihr Kinn.
Dort, wo sie herkam, erstrahlte gerade der Frühling in seiner ganzen Pracht. Ihr Sohn hatte es vor langer, langer Zeit in einem Schulaufsatz einmal so formuliert, sehr trefflich wie ich finde, sofern mir dieses Urteil zusteht: »Die Grashüpfer hüpften, die Schmetterlinge schmetterten, und die Sonne lachte dazu.« Er hatte damals eine nicht sehr gute Zensur bekommen – unter uns: eine sechs. Heute leitete er die Filiale eines Baumarkts in der nächsten Kreisstadt. Der junge Mann im Suppenimbiss wusste hiervon natürlich nichts, nein, woher auch.
Was er ebenfalls nicht wusste, war das Folgende. Im Sack befanden sich getrocknete Eicheln, Bucheckern und Kastanien vom letzten Herbst. Vielleicht waren auch ein paar Tannenzapfen darunter. Es wäre aber nicht zutreffend, unsere Dame als eine Anhängerin des Herbstes zu zeichnen. Vielmehr war es so, dass sie beabsichtigte, diese Güter an der Terminbörse für Agrarprodukte zu verkaufen. Der Enkelsohn einer Nachbarin hatte kürzlich von dieser Möglichkeit erzählt und ihr später die Adresse der Terminbörse handschriftlich notiert. Die Terminbörse musste hier ganz in der Nähe sein. Am Ende hatte er ihr sogar noch die Zugverbindung herausgesucht. Zum Dank hatte sie ihm eine Tafel Schokolade geschenkt. (Ein Bier wäre ihm lieber gewesen, sagte er. Er ging bereits auf die dreißig zu.)
Der Erlös des anstehenden Termingeschäfts sollte das Startkapitel bilden für einen neuen Lebensabschnitt, so hatte sich die ältere Dame das gedacht. Ein wenig Sorge bereitete ihr die Tatsache, dass sie an der Börse trotz zahlreicher Anrufe und vereinzelter Rückrufe schlussendlich keinen Termin bekommen hatte. Sie musste sich also ohne Termin dort hinbegeben. Aber wie sollte unter diesen Bedingungen ein Termingeschäft zustande kommen? Auch davon wusste der junge Mann im Suppenimbiss nichts, so wie er überhaupt von so vielen Dinge keine Kenntnis hatte.
Die Dame – doch halt, geben wir ihr nun endlich einen Namen und nennen sie zum Beispiel die Dame von Aue, damit sie hier im Folgenden nicht so namenlos handeln und sprechen muss – die Dame jedenfalls nestelte jetzt an ihrem prall gefüllten Sack, gut sichtbar und gut hörbar für alle Anwesenden, also für sie selbst und für den jungen Mann. Sonst hörte es niemand, denn es war ja auch sonst niemand da.
Einen Moment, mir kommt da ein Gedanke, vielleicht geben wir der älteren Dame doch besser einen anderen Namen? Wobei es eigentlich egal ist, also entscheiden Sie selbst.
Kehren wir also wieder zurück zu den Geschehnissen dieses zu warmen Mainachmittags in der Landeshauptstadt. Es war der Moment gekommen, als es der junge Mann nicht mehr aushielt. Seit seiner Frage waren bestimmt schon zwei oder mehr, vielleicht sogar schon drei Augenblicke verstrichen. Vergeblich hatte er auf eine Antwort gehofft. Er war von Natur aus ein neugieriger Mensch. Vielleicht war er Meinungsforscher oder Friseur, wer weiß, ausgeschlossen ist das nicht. Er war auch mutig, zumindest gelegentlich, und so setzte er alles auf eine Karte. Er wiederholte seine Frage, etwas langsamer und auch etwas lauter als zuvor: »Kann man Ihnen irgendwie behilflich sein?«
Sie schüttelte den Kopf. Nun blieb er hartnäckig, nun ließ er den Gesprächsfaden nicht mehr abreißen. »Das kaufe ich Ihnen nicht ab. Sagen Sie: Was machen Sie da?«
»Landflucht«, erwiderte sie. Dann verfiel sie wieder in dieses charaktervolle Schweigen, das so gut zu diesem schwülheißen Nachmittag passte.