»Na dann schauen wir einfach mal«, sagte Sepp ter Stek zu seinem Nachbarn, und hoffte, ihn damit endlich loszuwerden. Aber weit gefehlt.
»Nein«, sagte Herr Amselmeier streng. »Alles, nur das nicht.«
Sepp überlegte einen Augenblick. Seit Neuestem war er im Nebenberuf Hausverwalter jenes Altbaus, den er und sein Nachbar zusammen mit etwa zehn weiteren Parteien bewohnten. Es handelte sich dabei nicht um politische Parteien, sondern größtenteils um ganz normale Leute – Architekten, Anwälte, leitende Angestellte, meist unpolitisch, ganz normale Leute eben. Dies war umso erstaunlicher, als das Mietshaus im westlichen Schwabing und an der Ecke Zentner- mit Hohenzollernstraße stand, in einer leicht anrüchigen, ansonsten aber anständigen Gegend. Im Grunde genommen war das Haus nicht allzu schwer auffindbar, sofern man einen Stadtplan oder Google Maps bemühte. In jüngster Zeit war letzteres aber ein wenig aus der Mode gekommen. Die Hausnummer wird an dieser Stelle übrigens nicht verraten, denn sie tut nichts zur Sache. Auch dass sich das Haus am Anfang der Zentnerstraße befindet, trägt nichts zu dieser Geschichte bei, ich wollte es zur Sicherheit aber dennoch erwähnt haben.
Sein neues Amt als Hausverwalter bereitete Sepp einiges Kopfzerbrechen, denn es war ausgesprochen zeitintensiv. Einen nicht gerade kleinen Anteil am hohen Arbeitsaufkommen hatte der junge Herr Amselmeier, ein freiberuflicher Schriftsteller, der bis vor kurzem noch als Firmenschriftsteller bei einer großen Kette für Damenkonfektion angestellt gewesen war. Nach den Vorkommnissen der letzten Wochen wunderte sich Sepp ter Stek aber durchaus nicht, dass man Amselmeier dort gekündigt hatte. Übrigens, falls Sie sich über Sepp ter Steks Namen wundern: er hieß nicht immer so; nach der Heirat mit Ines ter Stek nahm er ihren Nachnamen an, denn Sepp ter Stek war eigentlich von Berufs wegen Postbote; Mit seinem Geburtsnamen, Sepp L., war er nie wirklich warm geworden, und so fiel es ihm leicht, den Namen seiner Frau Ines anzunehmen. Übrigens übt Sepp den Beruf des Postboten ehrenamtlich aus.
Sepp beschloss also, Amselmeiers Antwort zu übergehen. Stur wiederholte er: »Na, dann schauen wir einfach mal.« Allein durch das spontan eingefügte Komma hatte der Satz jedoch einen ganz anderen Rhythmus erhalten, wie Sepp stolz bemerkte.
»Nein, alles nur das nicht«, wiederholte Amselmeier überraschenderweise.
»In Ordnung, Amselmeier. Lassen Sie mich einen anderen Angang wählen. Wie wäre es mit: Na, da sollten wir demnächst einfach noch einmal nachhorchen.«
»Ausgeschlossen«, rief Amselmeier. »Wie können Sie so etwas vorzuschlagen.«
»Leise hinterherlauschen?«
»Nein.«
»Das sehen wir schon?«
»Nein.«
»Wir werden uns einfach auf unseren guten Riecher verlassen?«
»Hören Sie schon auf, ter Stek!« rief er erregt. »Sie nehmen mich gar nicht ernst.«
»Jetzt hören Sie mal. Es geht mich in meinem Amt als Hausverwalter überhaupt nichts an, wenn Ihre Post nicht rechtzeitig zugestellt wird. Das fällt nicht in meinen Aufgabenbereich.«
»Aber Sie sind doch der zuständige Postbote in unserem Viertel?«
»Ja, aber nicht in meiner Funktion als Hausverwalter. Und wenn Sie mir jetzt so kommen, dann sage ich Ihnen ganz offen: Als ehrenamtlichen Postboten geht mich das alles überhaupt nichts an. Wenden Sie sich an die zuständigen Stellen.«
»Und wer ist das? Wer ist zuständig?«
»Finden Sie es heraus. Da haben Sie eine interessante Rechercheaufgabe vor sich.« Und haben weniger Zeit, mich zu belästigen, fügte ter Stek dem Gesagten in Gedanken noch hinzu.
»Ich hätte da noch ein weiteres Anliegen«, sagte Amselmann. »Jemand müsste die Blumen auf meinen Balkon gießen.« (Haben Sie es bemerkt? Ja, genau. Er heißt doch Amselmeier. Meier mit »ei« oder »ai«? Eben. Da haben Sie’s!)
»Blumen gießen, Blumen gießen«, wiederholte Amselmann.
»Dieser Jemand bin nicht ich«, sagte Sepp. »Das ist nicht meine Aufgabe.«
»Und jemand müsste das Altglas wegbringen.«
»Auch dieser Jemand bin ich nicht«, erwiderte Sepp. Er ließ sich nicht so leicht weichkochen.
»Und jemand müsste mit meiner Katze Gassi gehen, mit der Trixi.«
»Mit der Neuberger Trixi?« fragte Sepp. »Wohnt die seit Neuestem bei Ihnen?«
»Nein, ich habe sie bei den Neubergers in Pflege gegeben.«
»Gut, das kann ich machen«, sagte Sepp. Er warf einen Blick in seinen Kalender. Nächste Woche hatte er noch einen Slot frei. Er liebte Katzen.
»Außerdem ersticke ich in Arbeit«, sagte Amselmann. »Vielleicht könnten Sie an der entsprechenden Stelle eine Reduzierung erwirken.«
»Was meinen Sie?« fragte Sepp.
»Eine Reduzierung. Meine Arbeit erdrückt mich. Ich komme einfach nicht mehr hinterher. Neben meinem Schreibtisch stapeln sich die leeren Seiten.«
»Lassen Sie mich mal nachsehen«, sagte Sepp verständnisvoll. Er hatte allerdings nicht vor, der Bitte des jungen Amselmeier nachzukommen. Das fiel überhaupt nicht in sein recht genau umrissenes Aufgabengebiet.
Da die beiden sich zwischen Tür und Angel unterhalten hatten, war der Weg in Amselmeiers Arbeitszimmer nicht weit. Sie stürmten durch die Diele und traten an den Schreibtisch. Amselmeier trug an diesem Tag Gummistiefel, die trotz des trockenen, schönen Maiwetters nass und schmutzig waren. Vermutlich hatte er am kleinen Biotop des Hinterhauses wieder ein wenig nach Inspiration gesucht. Überhaupt war es auffällig, wie sehr dieses Stadtviertel in letzter Zeit heruntergekommen war. Nicht wenige lebten nahe der Armutsgrenze oder darunter. Und sogar der Hausbesitzer konnte sich ob der kargen Mieteinnahmen nur mehr mit Mühe über Wasser halten. Dennoch ließen sich die Bewohner der Zentnerstraße nicht unterkriegen. Sie waren stolz auf ihre Moral und zeigten ihren verdienten Wohlstand, wann immer sich ihnen die Möglichkeit bot. Es war ein sehr respektables Stadtviertel, und gerade daher hatte Sepp ja kürzlich für das Amt des Hausverwalters kandidiert. Da konnte er freilich noch nicht wissen, vor welche Herausforderungen ihn dieses Amt noch stellen würde.
Und so mischte er sich jetzt ein. »Aber sie machen ja Ihren schönen weißen Perser ganz schmutzig!« sagte Sepp.
»Das geht Sie überhaupt nichts an«, erwiderte Amselmeier.
Sepp besah nachdenklich den Stapel leerer Blätter neben Amselmeiers Schreibtisch, der seit der letzten Wohnungskontrolle, die Sepp regelmäßig im Auftrag des Hausbesitzers durchführte, sichtbar in die Höhe gewachsen war. Schließlich sagte Sepp noch einmal: »Das fällt nicht in mein Aufgabengebiet.«
»Warten Sie, warten Sie, ter Stek«, rief Amselmeier. »Schauen Sie…«
»Ich schaue nicht.«
»Jetzt hören Sie mir mal zu, ter Stek…«, fuhr Amselmeier in forderndem Tonfall fort.
»Ich höre nicht«, erwiderte Sepp sachlich, während er sich die Ohren zuhielt. Übrigens hatte er sich kurz zuvor die Augen zugehalten.
»Passen Sie auf, ter Stek.« Amselmeier hatte sich nun bereits wieder ein wenig beruhigt. »Warum sollte das nicht in Ihr Amt als Hausverwalter fallen? Hier, ich schenke Ihnen ein wenig Schokolade.« Er verschwand kurz, bevor er wieder zurückkehrte. »Ich will Ihnen folgenden Vergleich liefern. Nehmen Sie das in früheren Zeiten gängige Amt des Gutsverwalters. Der Gutsverwalter war mit allem befasst, was auf dem Gut vor sich ging. Hatten die Arbeiter zu viel zu tun, kamen sie nicht mehr hinterher, so war es am Gutsverwalter, sich eine Lösung für dieses Problem einfallen zu lassen…«
»Erstens war es so nicht«, sagte Sepp. »Und zweitens ist das ein unzulässiger Analogieschluss.«
»Ach so«, sagte Amselmeier. »Vielleicht diskutieren wir das ein andermal noch einmal. Wie sieht es morgen früh bei Ihnen aus? Sind Sie da? So um sieben?«
Sepp nickte mürrisch und ging seiner Wege.
Am nächsten Morgen wurden die ter Steks von einem drängenden Klingeln der Türglocke geweckt. Es war sieben Uhr, und Sepp lag noch immer im Bett, denn es war dies sein freier Tag. Mit einem Ruck richtete er sich auf, zog eine Jogginghose und seine Postbotenjacke über den Pyjama und lief zur Tür. Erneut klingelte es, diesmal noch vehementer als beim ersten Mal.
Er öffnete. Vor ihm standen zwei Polizeibeamte, genauer gesagt zwei Streifenpolizisten. Es handelte es sich um einen Polizisten und um eine Polizistin, genauer gesagt andersherum, um eine Polizistin und um einen Polizisten.
»Uns liegt eine Anzeige wegen Ruhestörung gegen Sie vor«, sagte der Beamte. »Spreche ich mit Herrn ter Stek?«
»Hallo Rudi!« rief Sepp aus. »Erkennst du mich nicht?« In dem Polizisten erkannte er einen flüchtigen Bekannten. Rudi wohnte ganz in der Nähe und hatte Sepp und seine Frau Ines kürzlich zu einem schicken Abendessen eingeladen. Der Polizist und Sepp waren die einzigen Anwesenden gewesen, die nicht als Arzt arbeiteten, was eine enge Verbundenheit zwischen den beiden hergestellt hatte, wenn auch nur für einen Abend. Es hatte Toast Hawaii gegeben, eine nicht mehr ganz zeitgemäße, weil exotische Köstlichkeit.
»Erkennst du mich gar nicht?« wiederholte Sepp.
Der Angesprochene schwieg.
»Rudi, bist du’s?« fragte Sepp.
»Nein, bin ich nicht«, sagte der Polizist. »Ich bin im Dienst.«
»Sagtest du nicht, du arbeitest bei der Berufsfeuerwehr?« fragte Sepp.
»Vielleicht klären Sie das nach Feierabend«, sagte Rudis Kollegin, eine spöttisch lächelnde, ansonsten aber ernst dreinschauende Blondine. »Uns liegt eine Anzeige wegen Ruhestörung vor.«
»Das sagten Sie bereits«, sagte Sepp. »Wie geht es Ihnen?« Nach einem kurzen Seitenblick auf Rudi verbesserte er sich schnell: »Ich meinte natürlich – alles gut?«
»Laut der Anzeige haben Sie heute Nacht zwischen drei und halb vier sowie bis eben, also etwa zwischen halb sieben und sieben, gelärmt, und zwar so laut, dass es über die gebotene Zimmerlautstärke hinausging.«
»Das ist kaum möglich«, sagte Sepp. »Ich lag im Bett und habe geschlafen. Sehen Sie, unter meiner Jacke trage ich noch immer meinen Pyjama.«
Er war schon im Begriff, sich seiner Jacke und seiner Jogginghose zu entledigen, aber der Polizist winkte großzügig ab. »Das beweist zwar gar nichts – aber schon gut, das glauben wir Ihnen. Dennoch waren Sie zu laut.«
»Warum siezt du mich? Und welcher Art soll der Lärm gewesen sein?«
»Ich bin nicht befugt, darüber Auskunft zu geben«, antwortete Rudi. »Aber wir könnten in einem Verhör gemeinsam versuchen, es herauszufinden? Sie sind doch kooperativ, oder?«
»Selbstverständlich«, beeilte sich Sepp zu versichern. Er bat die beiden herein und führte sie in die Küche, wo sich alle drei an den großen Esstisch setzten. »Bin ich verhaftet?« fragte er, überflüssigerweise.
In diesem Moment hörte man aus dem Schlafzimmer das Klingeln des Weckers. Kurz darauf lief eine nackte Frau an der Küche vorbei, hielt kurz inne, kehrte zurück und warf einen Blick auf die dort versammelte Gesellschaft.
»Das ist meine Frau Ines«, sagte Sepp an die junge Polizistin gewandt.
»Ach…«, erwiderte an ihrer statt Rudi Wagenhardt.
»Was gibt’s?« fragte Ines in die Runde. Es schien ihr nichts auszumachen, dass sie als einzige nackt war. Warum auch, diese Wohnung war schließlich ihr zuhause.
»Ach nichts, Schatz«, sagte Sepp. »Nur eine Anzeige wegen Ruhestörung. Ich kümmere mich darum.«
»In Ordnung«, sagte sie. »Ich gehe duschen. Ich muss bald in der Praxis sein.«
»Wenden wir uns also nun der Sache zu«, sagte die Polizistin. »Schnarchen Sie?«
»Nein, das ist ausgeschlossen«, sagte Sepp. »Sie können meine Frau fragen.«
»Für den Moment ist das nicht nötig«, sagte die Polizistin. »Reden Sie im Schlaf?«
»Gelegentlich«, sagte Sepp.
»Worüber?« hakte die Polizistin nach.
»Über dies und das«, antwortete Sepp. Die Polizistin nickte zufrieden, während Rudi alias der männliche Polizist in seinem kleinen schwarzen Notizbuch mitschrieb.
»Haben Sie heute Nacht im Schlaf geschrien?« fragte die Polizistin weiter.
»Ich kann das nicht ausschließen«, sagte Sepp. »Wissen Sie, seit Neuestem plagen mich Albträume wegen meines neuen Amtes als Hausverwalter.«
»Haben Sie in genau jenem Moment geschrien, als wir an der Tür geklingelt haben?« fragte nun der Polizist. »Um Ihrer Erinnerung ein wenig auf die Sprünge zu helfen: da war es genau 6 Uhr 59.« Offensichtlich versuchten die beiden Ermittler, Sepp ter Stek zu überrumpeln. Und möglicherweise wendeten sie schon zu diesem frühen Zeitpunkt die gute alte good-cop-bad-cop-Strategie an.
»Ausgeschlossen«, sagte Sepp. »Genau in diesem Moment bin ich ja von ihrem Klingeln aufgewacht. Meine Frau kann bestätigen, dass ich nicht multi-tasking-fähig bin. Ich kann unmöglich beides zugleich getan haben – schreien und gleichzeitig aufwachen, das ist unmöglich. Sie müssen mir glauben.«
»Das klingt plausibel«, sagte die Polizistin. Sie wirkte aufgrund der bisherigen Aussagen bereits weitgehend besänftigt. Sie blickte Sepp nachdenklich an und fragte: »Möchten Sie vielleicht ein Stück Schokolade? Sie haben bestimmt noch nichts gefrühstückt.«
»Oh ja, gerne!« rief Sepp. »Lassen Sie mich nachsehen, ob ich in der Vorratskammer noch eine Tafel finde.«
»Bitte bleiben Sie hier«, ermahnte Rudi ihn streng. »Ich gehe nachsehen. Sie bleiben hier sitzen, die Hände bitte auf den Tisch, und zwar so, dass meine Kollegin sie sehen kann. Die Hände, meine ich, Sie kennen das ja schon.«
Die Polizistin und Sepp ter Stek saßen sich eine Weile schweigend gegenüber. Gerade als das Schweigen unangenehm zu werden drohte, beschloss Sepp mutig, alles auf eine Karte zu setzen. »Haben Sie eigentlich noch Fragen?«
»Nein«, antwortete die Polizistin. Wieder verfielen beide in Schweigen.
Nach einer Weile kam der Polizist mit einer Flasche Rotwein zurück. Es handelte sich um einen teuer aussehenden Barolo.
»Schokolade habe ich keine gefunden«, sagte er, »aber das hier. Ich muss diesen Wein leider konfiszieren, Herr ter Stek.«
»Aber warum das denn?« protestierte Sepp zurückhaltend.
»Weil wir wegen einer mutmaßlichen Ruhestörung gerufen wurden. Die Statistiken belegen, dass der Konsum von Alkohol und Ruhestörung oft Hand in Hand gehen. Außerdem möchte ich mir nicht vorwerfen lassen, dass ich Sie aufgrund unserer persönlichen flüchtigen Bekanntschaft bevorzuge.«
»Kannst du mir bitte eine Quittung ausstellen, Rudi?« fragte Sepp.
»Geht nicht. Ich habe meinen Quittungsblock unten im Streifenwagen.«
»In der Kammer befindet sich noch mehr Wein«, sagte Sepp und nahm erneut all seinen Mut zusammen. »Allerdings eher von der billigen Sorte. Kochwein.«
Aber Rudi ignorierte routiniert Sepp ter Steks Finte.
Vielleicht um abzulenken, fragte nun die Polizistin: »Dürfte ich vielleicht Ihre Toilette benutzen?«
»Nein, das dürfen Sie nicht«, sagte Sepp barsch.
Da blitzte es schlau in den Augen der Polizistin auf und sie sagte: »Das verstehe ich. Aber Sie werden sicher nichts dagegen haben, wenn auch ich einen Blick in die Vorratskammer werfe. Vielleicht finde ich ja doch noch ein wenig Schokolade für Sie.«
Sepp nickte resigniert, und die Polizistin verließ die Küche.
Um irgendetwas zu sagen, stellte Sepp fest: »Ich wusste gar nicht, dass du Streifenpolizist bist, Rudi.«
Dieser legte einen Finger auf die Lippen, bevor er leise sagte: »Das bin ich gar nicht. Wir sind von der Wasserpolizei.«
»Aber warum…«
»Das ist alles nur Tarnung. Entschuldige bitte, aber mehr darf ich dazu nicht sagen. Eigentlich hätte ich gar nichts sagen dürfen.«
»Verstehe«, flüsterte Sepp. »Daher auch keine Quittung.«
Rudi nickte. Da kehrte die Polizistin mit etwa einem Dutzend Tafeln Schokolade zurück.
»Ich frage mich wirklich, wie du die übersehen konntest«, sagte sie zu ihrem Kollegen. »Sie lagen ganz vorne, direkt auf Augenhöhe.«
»Da muss wohl vorhin noch der Barolo davorgestanden sein«, sagte Rudi, bevor er an mich gewandt fortfuhr: »Möchten Sie Schokolade? Ich weise Sie darauf hin, dass wir alles mitnehmen müssen, was Sie nicht sofort verzehren.«
»Ohne Quittung natürlich«, sagte Sepp resignierend.
»Ohne Quittung, ja«, gab Rudi zu. Stille breitete sich aus, während Sepp eine Tafel Schokolade aß. Als er gerade die zweite Tafel aufriss, erklang ein Geräusch, das langsam anschwoll und sich mehr und mehr zu einem penetranten Rauschen aufschwang.
Niemand bewegte sich, alle verharrten in genau der Pose, die sie noch während der Stille eingenommen hatten.
»Was ist das?« flüsterte die Polizistin und deutete nach oben, daher, von wo das Rauschen kam.
»Das müssen die leeren Blätter meines Nachbarn sein, des Herrn Amselmeier.«
»Können Sie mir mehr darüber sagen? Ertönt das jeden Tag um diese Zeit?«
»Nein«, sagte Sepp. »Aber nun habe ich auch eine Frage. War es vielleicht Herr Amselmann, der mich wegen Ruhestörung angezeigt hat?«
»Was Sie nicht sagen«, antwortete Rudi.
»Wer hat mich angezeigt?« fragte Sepp ter Stek erneut. Rudi bewunderte insgeheim Sepps Hartnäckigkeit, ließ sich aber nichts anmerken.
»Sie sagen es.«
»Also war es Amselmeier?«
»Darüber darf ich keine Auskunft geben. Aber Sie sagten vorhin, dass es am Hinterhaus ein Biotop gibt. Vielleicht auch einen Teich?«
»Ja, aber darin schwimmt nichts, was ihr konfiszieren könntet«, sagte Sepp frech. »Seid ihr überhaupt von der Wasserpolizei? Kann ich mal eure Dienstmarken sehen?«
»Hier, werfen Sie doch einen Blick auf meine Dienstwaffe«, sagte Rudi, und hielt sie Sepp kurz unters Kinn, bevor er sie sogleich gutmütig wieder sinken ließ. »Eine Baretta.«
Plötzlich gähnte die Polizistin laut und theatralisch, bevor sie sich Sepp zuwandte und ihm forsch in die Augen sah. Er hielt ihrem Blick stand, aber sie fragte: »Darf ich mich vielleicht kurz in Ihrem Schlafzimmer hinlegen? Wir sind seit acht Stunden ununterbrochen im Dienst. Ich bin todmüde.«
»Selbstverständlich«, sagte Sepp. »Aber eine letzte Frage habe ich noch. Der Herr Amselmeier von oben fühlt sich in letzter Zeit durch die Ruhe, die von unserer Wohnung ausgeht, gestört. Er sagt, es sei so still im Haus, dass er seine leeren Blätter rauschen hört. Kann es sein, dass er uns deswegen angezeigt hat?«
Die Polizistin zuckte die Achseln. »Ich lege mich nun besser hin. Bitte haben Sie Verständnis, dass wir Ihnen nicht alles erzählen dürfen. Aber wie Sie bereits richtig vermutet haben, hängt das alles hier zusammen. Es steht in unmittelbarem Zusammenhang mit den immer nassen und schmutzigen Gummistiefeln des Herrn Amselmeier. Wir sind ihm bereits seit der langen Trockenheit im März auf der Spur. Erst wussten wir nicht, wo er wohnt, bis wir es herausfanden. Erst wussten wir gar nicht wie er aussieht, bis er einmal beobachtet wurde. Erst tappten wir im Dunkeln, was seinen persönlichen Hintergrund angeht, aber dann haben wir fleißig ermittelt und jetzt kennen wir uns aus. Und Sie, Herr ter Stek, haben ohne Ihr Wissen einen wertvollen Beitrag zu unserem Fahndungserfolg geleistet. Ich bin mir sicher, unser Herr Innenminister wird das zu schätzen wissen. Aber jetzt bin ich müde und lege mich hin.«
Sie verstaute die verbliebene Schokolade in ihrer Uniformjacke und zog ihren rechten Stiefel aus. Den linken Stiefel behielt sie an. So wie sie war, legte sie sich ins Ehebett der ter Steks, wobei sie ihren linken Fuß, also jenen, der immer noch in einem geschmeidigen Stiefel steckte, senkrecht in die Luft reckte. Sie tat dies wahrscheinlich, um die Bettlaken nicht zu beschmutzen.
Sepp warf erleichtert einen letzten Blick auf ihr nun friedliches Antlitz, bevor er leise die Schlafzimmertür zuzog. »Na, dann schauen wir einfach mal«, dachte er bei sich. Es war ja alles gerade noch einmal gut ausgegangen.