Es war der Abend nach einem schwülwarmen Augusttag, als ich in der Dämmerung einen Spaziergang durch unser Stadtviertel unternahm und mir etwas Außergewöhnliches widerfuhr. Ich kann nicht einmal sagen, dass es völlig überraschend kam, denn so manches Vorzeichen hatte bereits auf dieses Ereignis hingedeutet. Erstens hatte… Zweitens… Und schließlich.
Vielleicht sollte ich aber zunächst von der Stimmung berichten, die an diesem schwülwarmen Augustabend über der Stadt hing, denn es war immer noch schwül und seltsamerweise auch warm. Nun, die Stimmung war, wie sie an einem derartigen Abend eben zu sein pflegt. Allerorten erblickte man flanierende Paare in kurzen Kleidern und kurzen Hosen, Familien mit Kindern auf dem Weg zur nächsten oder zur besten Eisdiele, abgekämpft aussehende Büromenschen auf dem Nachhauseweg von einem mit Schweiß und einigem Widerwillen verbrachten Tag, und ziellos vor sich hinschlendernde Alleinstehende auf der Suche nach dem passenden Ausklang dieses schönen Sommertages. Den Rest malen Sie sich bitte selbst aus, denn jeder kennt derartige Augustabende, und zudem wohnt nicht jeder von Ihnen im selben Stadtviertel wie ich, so dass ein derartiger Sommerabend durchaus anders aussehen kann, je nachdem wo man wohnt und sich bewegt.
Was mein inneres Empfinden anbetrifft, so verhielt es sich ähnlich. Auch dieses hing davon ab, ob… oder… – je nachdem also, könnte man sagen. Aber warum sollte ich mich denn schämen, davon zu berichten?
Ich hatte den ganzen Tag müßig und träge verschlafen. Mein Frühstück und mein Abendessen hatten mir nicht recht schmecken wollen, und ich hatte den Tag allein zu Hause verbracht. Mir war langweilig gewesen, ich gebe es zu, und ich hatte nicht einmal ein schlechtes Gewissen deswegen gehabt.
Jedenfalls überquerte ich die Hohenzollernstraße und bog an der nächsten Einmündung rechts ab, denn ich hatte mir vorgenommen, später auf keinen Fall einen Nachhauseweg einschlagen zu müssen, der mit dem Hinweg identisch war. Vor mir eilte eine Maus über die Straße, natürlich wie immer bei Rot, aber ich ignorierte sie einfach.
Direkt hinter der Straßenecke verstellte mir die Neuberger Trixi den Weg. Sie trug, dem Wetter überhaupt nicht angemessen, weiße Socken und weiße Handschuhe. Wir umkreisten einander ein paarmal, bevor wir begannen, uns vorsichtig zu beschnuppern. Keiner von uns beiden sagte ein Wort. Soso, frisch gebadet, dachte ich. Sie dachte vermutlich dasselbe von mir. Da wir in letzter Zeit nur noch wenige Interessen teilten, beschloss ich, unverrichteter Dinge weiterzugehen.
Schlau vermied ich den Zebrastreifen, um die Straße zu überqueren. Ich bin in meinem Freundes- und Bekanntenkreis dafür bekannt, keine Zebrastreifen zu mögen. Vielleicht ist das sogar die einzige Eigenschaft, die meine Freunde spontan mit mir in Verbindung brächten, so sie jemand danach fragen würde. Aber es fragt ja sowieso niemand danach.
Ich bog gerade um die Ecke an der Georgenstraße, als mir ein geöffneter Pappkarton ins Auge stach, der mit »zu verschenken« beschriftet war. Die Handschrift der Verfasserin deutete auf einen schwierigen Charakter hin und auf ein getrübtes Unglück in den Angelegenheiten der Liebe. Ich streckte mich und warf einen neugierigen Blick in den Karton. Er war bereits leer, mit Ausnahme einer schlichten, aber schön gearbeiteten goldenen Brosche. Verstohlen blickte ich nach links, dann nach rechts, und ich gestehe, dass es auch andersherum gewesen sein mochte. Niemand war zu sehen. Da ich weder eine Hand-, noch eine Umhängetasche mit mir trug, nahm ich die Brosche schnell in meine linke Pfote und ging weiter.
Angesichts dieser unverhofften Beute beschloss ich, auf dem direkten Weg nachhause zu gehen, was nicht ganz ungefährlich war. Warum, werden Sie sich fragen? Nur Geduld, Sie werden es noch erfahren. Und eben weil es nicht ganz ungefährlich war, bog ich an der Hiltenspergerstraße nach rechts in die Agnesstraße ein, nahm also einen kleinen Umweg in Kauf, denn wie ich bereits sagte, ich hasste es im Allgemeinen, auf dem Rückweg dieselbe Strecke zu wählen wie auf dem Hinweg. Völlig unbemerkt von den Anrainern verlängerte ich diesen Umweg noch ein wenig, aber sagen Sie es bitte nicht weiter. Erst in der Tengstraße bog ich links ab.
Da sah ich schräg gegenüber erneut die Neuberger Trixi. Sie tat so, als bemerke sie mich nicht. Umso besser, dachte ich. Schließlich wollte ich ja vermeiden, dass sie Kenntnis von meinem wertvollen Fund erlangte.
Auf dem weiteren Nachhauseweg dachte ich dann gar nicht mehr an die Brosche. Stattdessen ließ ich den vergangenen Tag mit all seinen Tagträumen und seiner mit Trägheit angefüllten Beschaulichkeit Revue passieren. Ich machte Pläne für die kommenden Tage, und ich würde diese vermutlich nie verwirklichen. Ich nahm mir vor, niemandem von der Brosche zu erzählen. Und als ich die Schwelle zu meiner Wohnung überquerte, hatte ich sie endgültig vergessen.
Auch später fand ich die Brosche nicht mehr in meiner Wohnung, so lange und so gewissenhaft ich auch nach ihr suchte. Und glauben Sie mir, ich suchte äußerst gewissenhaft. Ich warf Blumenvasen um, zerkratzte Sofa- und Bettbezüge, brachte in der Küche ein Gewürzregal und im Arbeitszimmer eine Kommode zum Einsturz. Ich zerschlug die Gläser, die auf der Anrichte standen, fledderte die Bücher auf dem Nachttisch, räumte den Kleiderschrank aus. Ich ließ eine gefüllte Wasserkaraffe auf dem Boden zerschellen, und auch das Weinregal überstand meine zunehmend fieberhafte Suche nicht unbeschadet. Doch die Brosche blieb verschwunden.
Heute bin ich mir nicht mehr ganz sicher, ob ich den Fund der Brosche nicht einfach nur geträumt habe. Wissen Sie, meine Träume sind oftmals bunt, lebhaft und aufregend. Erst kürzlich hatte ich zum Beispiel einen fürchterlichen Albtraum. Mir träumte, ich wäre ein Kanarienvogel, aber davon erzähle ich Ihnen lieber ein andermal.