An einem verregneten Nachmittag im April saß Joseph in einem Café in der Nähe des Josephsplatzes. Derweil saß er dort gar nicht.
In Wirklichkeit saß Joseph an einem verregneten Nachmittag im April in einem anderen Café. Der genaue Ort ist eigentlich unwesentlich bei dieser Geschichte, wenngleich er sich durch Geo-Tagging, das Joseph nicht aktiviert hatte, oder durch die präzisen Zeugenaussagen der anderen Gäste, auch der abwesenden Stammgäste, später noch rekonstruieren lassen würde.
»Aber so verregnet war der Nachmittag gar nicht«, sagte Frau Stefani, und sah dabei auf einmal um Jahre jünger aus. Sie hatte in der Woche vor Georgi im Café Reitschule ihren vierten Geburtstag gefeiert. Sie war also eine Expertin, was Cafés anging.
In Wirklichkeit sagte sie aber etwas anderes, das ungleich geistreicher, ja beinahe revolutionär war, insbesondere wenn man die Kreise berücksichtigte, in denen sie normalerweise verkehrte. Oder sie äußerte ihren Zweifel am verregneten Charakter jenes Nachmittags, und fügte das Folgende nur noch beiläufig hinzu, so genau weiß ich das heute nicht mehr.
Jedenfalls sagte Frau Stefani noch: »Ich schätze Menschen, die sich über das Wetter unterhalten. Nein, bitte lachen Sie nicht!«
»Ich lache nicht«, versicherte ich umgehend.
»Gut«, sagte sie. »Denn tatsächlich: Menschen, die sich über das Wetter unterhalten, haben zunächst einmal etwas Unaufgeregtes an sich. Sie neigen nicht dazu, die Dinge über die Maßen hinaus zu skandalisieren, und viele bleiben ihrer im Grunde genommen unpolitischen Haltung insofern treu, als sie zur Schar der gleichzeitigen Stamm- und Nichtwähler gehören. Es sind nette Menschen. Es sind gute Menschen. Es sind Menschen, die zutiefst human empfinden.«
»Ich habe das auch schon immer vermutet«, sagte ich, bestrebt, zu meinem Ausgangsthema zurückzufinden. Ich musste mir jedoch eingestehen, einen Fehler gemacht zu haben, indem ich zu Beginn unserer Unterhaltung einen Fehler gemacht hatte. Die Sache mit der fälschlichen Erwähnung des Josephsplatzes rächte sich nun. Aber noch hatte ich eine Chance.
Ich fuhr fort: »Joseph saß also…«
Frau Stefani unterbrach mich. »Da können Sie sagen, was sie wollen.«
»Aber …«
»Ich war noch nicht fertig. Ich mag Menschen, die übers Wetter reden, egal ob in der Mittagspause in der Kantine, ob als Eisbrecher bei einem Stehempfang im Literaturhaus, oder als Antwort auf die Frage, wie es mir geht. Selbst im Fußballstadion, nachdem man seinen Platz eingenommen hat und auf den Anpfiff wartet, also ich meine den Anpfiff des Spiels – nicht den Anpfiff, den man sich zuzieht, weil man mit dem Trikot der Heimmannschaft im Gästeblock sitzt …«
»Seit wann gehen Sie ins Fußballstadion, Frau Stefani? Und seit wann besitzen Sie ein Trikot, oder gar ein Trikot der Heimmannschaft?«
»Ich meinte das beispielhaft. Natürlich gehe ich nicht ins Fußballstadion.«
»Ach so. Jedenfalls saß ich im Café …«
»Ich dachte, Joseph saß im Café?«
»Der auch.«
»Also saßen Sie beide im Café?«
»Wenn Sie so wollen: ja.«
»Das dachte ich mir.«
Da beugte sich ein älterer Herr vom Nebentisch herüber, senkte sein Smartphone und fixierte mich scharf über seine randlose Lesebrille hinweg. Er sagte: »Ich hatte das auch schon beinahe vermutet. Und dann passiert es! Aber eigentlich erstaunen mich derartige Dinge schon längst nicht mehr, denn wenn ich es recht bedenke …«
»Denken Sie, denken Sie, aber mischen Sie sich bitte nicht in unsere Unterredung ein, junger Mann«, sagte Frau Stefani barsch. Sie wandte sich wieder an mich. »Aber Sie wollten mir etwas erzählen. Nun schießen Sie mal los. Kommen Sie endlich zum Punkt, ich habe nicht ewig Zeit.«
»Wie gesagt, es war im April, es war im Café, dort sah ich Joseph allein an einem Tisch neben der Tür sitzen. Er wartete offensichtlich auf jemanden. Ich wunderte mich, dass er einen Tisch im Innern des Lokals gewählt hatte, und nicht im Außenbereich, denn es war ein milder, frühlingshafter Tag …«
»Das war es nicht. Es hat geregnet! Und, wenn Sie mir die Bemerkung erlauben, das war auch höchste Zeit, denn die Natur lechzte aufgrund der wochenlangen Trockenheit nach Regen.«
»Sie reden nicht wie eine Vierjährige, Frau Stefani«, wandte ich ein.
Sie erwiderte selbstbewusst: »Unterlassen Sie dieses Schubladendenken. Ageismus. Ich möchte nun endlich wissen was passiert ist.«
»Wir saßen in diesem Café, da ging auf einmal die Tür auf und …«
»Entschuldigen Sie bitte«, unterbrach mich ein untersetzter Mann. Er trug einen Hut, der ihm wohl einen bohèmehaften Anstrich verleihen sollte. Er schien trotz seiner Jugend etwas wacklig auf den Beinen zu sein. Nicht auszuschließen, dass er zu dieser frühen Stunde bereits betrunken war. (Es war kaum zehn Uhr vorbei.) Er machte eine Geste, so als solle ich ihn durchlassen. Ich rutschte mit meinem Stuhl bis zum Äußersten nach vorne, hin zur Tischkante. Überflüssigerweise lehnte ich mich auch noch nach vorne. Mein Oberkörper bedeckte nun beinahe die komplette Fläche des kleinen, runden Cafétischs.
Doch statt ebenfalls den Bauch einzuziehen und hinter mir vorbeizuschlüpfen, blieb der Mann neben mir, der ich in meiner unbequemen Stellung verharrte, stehen, und fragte: »Verzeihung, was haben Sie gesagt?«
»Ich habe nicht zu Ihnen gesprochen. Ich war gerade dabei einen Satz zu beenden, den ich begonnen hatte in der Hoffnung, dass …«
»Lassen Sie das gefälligst«, sagte er. »Wollen Sie damit sagen, dass …«
»Entweder Sie wollen hinter mir vorbei oder nicht, aber bitte entscheiden Sie sich. Ich würde gerne meinen Satz beenden ...«
»Das hatten Sie doch gar nie vor, Sie Lümmel!« fuhr er mich an.
Frau Stefani, die bislang unserem Wortwechsel stumm gelauscht hatte, richtete sich auf ihrem Stuhl auf und sagte streng zu mir: »Ich muss diesem galanten Herrn hier zustimmen, wenngleich in anderen Worten. Auch ich glaube langsam, dass Sie mir gar nichts zu berichten haben. Ich gebe Ihnen eine letzte Chance: Was ist im Café geschehen? Was müssen Sie mir so dringend und unbedingt erzählen?«
»Joseph hat …«
»Aber das weiß ich doch bereits«, rief sie, lachte, und schlug in ihre Hände. »Das weiß ich doch schon. Das ist doch nichts Neues, das kommt jede Woche, ach was sage ich, jeden Monat mindestens einmal vor.«
Ich war verzweifelt und bereute es, die Verabredung mit Frau Stefani überhaupt eingegangen zu sein. Heimlich blickte ich auf die Uhr. Mir blieben noch fünf Minuten, bis ich aufbrechen musste, sonst würde ich meine U-Bahn verpassen. Da beschloss ich in einem kleinen, aber heroischen Akt der Resilienz und der Achtsamkeit, der sich in die Unausweichlichkeit meines Schicksals ergab, meinen Plan aufzugeben. Ich würde Frau Stefani diese Geschichte also nicht erzählen. Sie würde nie davon erfahren, ebenso wie auch der Rest der Welt in Unwissenheit weiterleben würde.
Und auf einmal war ich zutiefst erleichtert. Ich war mir auf einmal gar nicht mehr so sicher, ob sich die Geschichte tatsächlich so zugetragen hatte, wie ich sie erinnerte. Ich rief den Kellner, packte meine Sachen zusammen, vor allem das kleine Konversationswörterbuch und die beiden in Zeitungspapier eingeschlagenen Sachbücher mit den Titeln »Wie Kommunikation gelingen kann« und »Man kann nicht nicht kommunizieren«, und brach auf, ohne mich von Frau Stefani zu verabschieden. Was ging es mich an, wo sich Frau Stefanis jüngster Promenadenmischling herumtrieb. Soll sie doch selbst sehen wo sie bleibt, dachte ich bei mir.